Aktuell werden in Dudweiler Flugblätter verteilt, die die aktuelle Coronasituation auf gefährliche Art und Weise verharmlosen. In unserem Faktencheck zeigen wir, dass hier Halbwahrheiten verbreitet werden – und auf welche Zahlen abseits der reinen Infektionszahlen es gerade ankommt.
200, 219, 224 – in der vergangenen Woche hat die Zahl der täglich gemeldeten Coronafälle im Saarland neue Höchststände erreicht. Anders als noch im Frühjahr, als solche Werte für den Großteil der Bevölkerung alarmierend wirkten, nehmen mittlerweile viele Menschen die Zahl gelassen hin. Einige gehen sogar so weit zu behaupten, dass die Zahlen künstlich hochgehalten werden und eine zweite Corona-Welle “herbeigetestet” wird.
Das ist auch die Kernaussage eines der Flugblätter, dass in dieser Woche in etlichen Dudweiler Haushalten gelandet ist. “Der Anstieg der positiven Fälle entsteht nur, weil zu viel getestet wird”, heißt es dort. Belegt wird die Aussage mit einer Grafik, in der die Zahl der positiven Tests ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Tests gesetzt wird.
Das Problem: Die Grafik endet in der KW 37, also am 12. September. Genau in der Woche, ab der die Positivrate in Deutschland kontinuierlich und deutlich ansteigt. Die Zahl der Tests lag in der KW 42 (12.-18.10.) nur 2,6 Prozent höher als in der KW 37. Die Zahl der positiven Fälle ist in der gleichen Zeit um 331 Prozent gestiegen.
Positivrate hat sich vervierfacht
Oder anders ausgedrückt: Die Positivrate hat sich mehr als vervierfacht von 0,86 Prozent auf 3,62 Prozent. Unsere Quelle ist die gleiche wie im Flugblatt: Der RKI-Situationsbericht. Nur zeigen wir alle Zahlen und eben nicht nur einen ausgewählten Zeitraum. Die Aussage übrigens, dass die Tests eine hohe Fehlerquote haben und viele positiv getesteten Menschen gar nicht mit dem Virus infiziert seien, hat eine Recherche für den SR unter anderem hier eindrücklich widerlegt.
Aber wenn die Zahlen wirklich so stark steigen, müssten wir dann nicht auch wieder steigende Todeszahlen sehen? Ja – müssten wir, und werden wir in den nächsten Wochen auch leider. Die Erklärung liefert ein genauerer Blick in die Zahlen.
Todesfälle treten mit deutlichem Zeitverzug auf
Den Höhepunkt der ersten Welle im Saarland erlebten wir im Saarland Anfang April mit 179 gemeldeten Neuinfektionen am 2. April. Bis zu diesem Datum waren im Saarland 16 Todesfälle zu beklagen, die nach einer Coronainfektion verstorben waren. Danach ebbte die Zahl der Neuinfektionen ab, die Zahl der Todesfälle stieg und erreichte gut zwei Wochen später mit 11 bzw. 14 Todesfällen am Tag ihren Höhepunkt, wie aus Daten des Gesundheitsministeriums im Saarland hervorgeht.
Just in diese Zeit fällt übrigens auch der Zeitraum, in dem im Saarland die Zahl der Verstorbenen insgesamt über dem Schnitt der vier Jahre zuvor lag. Für wenige Wochen im April war eine Übersterblichkeit zu verzeichnen – danach sanken die Zahlen wieder auf das Niveau der Vorjahre oder sogar leicht darunter, wie Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen.
Aber: Bei der ersten Welle waren auch deutlich mehr Über-60-Jährige unter den positiven Fällen – ihr Anteil lag im April (KW 14 – 18) bei 40 bis 50 Prozent. In der ersten Aprilwoche waren 300 der 772 gemeldeten Fälle über 60 Jahre.
Den Sommer über gab es hingegen kaum Coronafälle in der Generation Ü-60. Ihr Anteil schwankte in den meisten Wochen zwischen zwei und sieben Prozent. In den vier Monaten von Anfang Juni bis Ende September wurden insgesamt 85 Neuinfektionen bei über 60-Jährigen festgestellt – darunter nur 23 Personen über 80 Jahre.
Zum Vergleich: In den ersten beiden Aprilwochen, als es vermehrt Ausbrüche in Pflegeeinrichtungen im Saarland gab, wurden 261 Über-80-Jährige positiv getestet.
Wir wissen aus dem bisherigen Verlauf der Pandemie, dass vor allem ältere Menschen ein hohes Risiko für einen schweren oder sogar tödlichen Krankheitsverlauf haben.
Da es im Sommer kaum ältere Infizierte gab, ist es auch nicht verwunderlich, dass es kaum Todesfälle gab. Auch im August und September, als die Zahl der Neuinfektionen erstmals spürbar anstieg, waren kaum Ältere unter den Infizierten.
Seit Anfang Oktober hat sich das allerdings geändert. Erst waren es 50, dann 133 und zuletzt 187 wöchentlich neue Coronainfektionen bei Menschen über 60 Jahren im Saarland.
Zahl der Covid-19-Patienten im Krankenhaus steigt
Das macht sich bereits jetzt in den Krankenhäusern bemerkbar – die Zahl der Coronapatienten dort ist nach Angaben des Gesundheitsministeriums binnen zwei Wochen von sieben Patienten auf 108 am 24.10. angestiegen. 29 davon müssen auf Intensivstation behandelt werden.
Noch ist das für das saarländische Gesundheitssystem kein Problem – nur etwa fünf Prozent aller Intensivpatienten im Saarland sind derzeit Covid-Patienten. Ein Drittel der verfügbaren Betten ist noch frei.
In Berlin, das verhältnismäßig stark von der zweiten Welle getroffen ist, sieht das schon anders aus. Dort sind bereits 10 Prozent aller Intensivpatienten an Covid-19 erkrankt. Die Kapazitätsgrenzen sind deutlich stärker ausgeschöpft – nur noch 16,4 Prozent der Betten sind frei (Quelle: DIVI Intensivregister, Stand: 25.10.2020).
Auch im Saarland werden die Fallzahlen im Krankenhaus steigen – nicht nur auf der Intensiv-, sondern auch der Normalstation. Allerdings mit einem zeitlichen Versatz. Das hat sich bereits im Frühjahr gezeigt – der Peak bei den Krankenhauspatienten kam rund zwei Wochen nach dem Höchststand bei den Infektionszahlen.
Woran liegt das? Bei Betroffenen, die so schwer erkranken, dass sie letztlich im Krankenhaus behandelt werden müssen, verschlechtert sich der Gesundheitszustand meist erst nach mehreren Tagen.
Vorhersagen mit dem Covid-Simulator
Forscher der Saar-Uni um Prof. Thorsten Lehr von der Klinischen Pharmazie versuchen in ihrem Projekt Cosim, genau das zu simulieren: Ausgehend von der bisherigen Entwicklung und den aktuellen Fallzahlen errechnen sie, wie viele Patienten in den kommenden Wochen in den saarländischen Kliniken zu erwarten sind.
Und gerade für die nahe Zukunft sind diese Vorhersagen sehr treffsicher: Denn aus den bislang vorliegenden Daten seit Beginn der Pandemie lässt sich relativ gut berechnen, wie viele der heute Infizierten in ein bis zwei Wochen im Krankenhaus und auf der Intensivstation landen – insbesondere wenn man zum Beispiel die Alterstruktur mit beachtet.
Die Simulation zeigt, dass bereits in einer Woche – also Anfang November – im Saarland die Belegungszahlen aus der Hochphase der ersten Welle erreicht werden.
Und bereits anderthalb Wochen später könnten alle derzeit noch freien Betten belegt sein – dann müsste auf die Notreserve zurückgegriffen werden. Eine Woche später wären dann auch diese Kapazitäten erschöpft.
Dann erreichen wir im Saarland einen Punkt, an dem schwerkranke Menschen nicht mehr optimal behandelt werden können und im schlimmsten Fall sterben müssen – obwohl sie eigentlich eine gute Behandlungsprognose gehabt hätten. Damit könnte auch die Sterberate dramatisch ansteigen – was man bereits im Frühjahr in einzelnen stark betroffenen Regionen zum Beispiel in Italien beobachten konnte. In Bergamo lag über einen kurzen Zeitraum die Übersterblichkeit laut Eurostat bei über 800 Prozent.
Es liegt maßgeblich an uns
Es muss aber nicht so weit kommen. Denn gerade bei Vorhersagen, die mehr als ein bis drei Wochen in die Zukunft reichen, hat das Modell der saarländischen Forscher eine große Schwäche: Politische Maßnahmen und insbesondere das Verhalten der Bevölkerung haben massive Auswirkungen auf die Fallzahlen und damit in der Folge auch auf die Krankenhauszahlen.
Die gerade vorgestellten Berechnungen basieren auf der Annahme, dass der R-Wert bei 1,8 verharrt, so wie es die Forscher Mitte vergangenen Woche für die bis dahin beobachtete Entwicklung berechnet haben. Ein R-Wert von 1,8 bedeutet, dass im Schnitt zehn Infizierte 18 weitere Personen anstecken.
Gelingt es beispielsweise, den R-Wert auf 1,3 zu senken, würden die Krankenhauskapazitäten auch Ende November noch längst nicht erreicht.
Möglicherweise haben wir das sogar schon durch die zuletzt eingeführten Beschränkungen in den Corona-Risikogebieten erreicht. Das zeigt sich erst im Laufe der Woche.
Der Hintergrund ist, dass die täglich gemeldeten Infektionszahlen nicht die aktuellen Ansteckungen wiederspiegelb, sondern das Infektionsgeschehen einige Tage zuvor. Zwischen Ansteckung und Symptombeginn liegen in der Regel mehrere Tage, hinzu kommt dann noch der Verzug, bis ein Test gemacht wurde, das Ergebnis vorliegt und schließlich vom Amt gemeldet wird. Auswirkungen bestimmter Eindämmungsmaßnahmen zeigen sich in den täglichen Fallzahlen daher meist erst mit einem Verzug von zehn bis 14 Tagen.
Auf welche Zahlen müssen wir schauen
Die bisherigen Ausführungen zeigen, wie komplex die Zusammenhänge sind und wie schwierig es ist, die richtigen Zahlen zu erfassen, um das aktuelle Geschehen zu beschreiben und zu wissen: Wann muss die Notbremse gezogen werden?
Bislang dreht sich in der Diskussion viel um die reinen Infektionszahlen, oder die Positivrate – oder die allgemeine Infektionssterblichkeit. All das ist aber nicht wirklich zielführend. Die Infektionszahlen ohne Betrachtung der dahinter liegenden Alterstruktur sagt zu wenig aus. Denn solange sich nur jüngere Menschen infizieren, bleiben die Krankenhäuser leer. Steigt aber der Anteil der Älteren, füllen sich auch schnell die Krankenstationen.
Die Infektionssterblichkeit ist leider auch kein fixer Wert, der uns beruhigen könnte – denn wie viele Menschen sterben, hängt maßgeblich von der Alterszusammensetzung der Infizierten ab und nicht zuletzt von der medizinischen Versorgung.
Und ganz wichtig: Es bringt nichts, nur auf die Zahlen von “heute” zu schauen. Denn hohe Infektionszahlen heute – insbesondere in der Altersgruppe Ü-60 – tauchen erst in ein bis zwei Wochen in der Krankenhausstatistik auf. Reagieren wir allerdings erst, wenn die Belegungszahlen einen kritischen Wert erreichen, könnte es schon genau diese ein bis zwei Wochen zu spät sein, um vermeidbare Todesfälle zu verhindern.
Genau deshalb ist es so wichtig, die wissenschaftlich fundierten Modellierungen im Auge zu behalten, wie beispielsweise den Covid-Simulator der saarländischen Forscher.
Meine Meinung: Jetzt gemeinsam handeln
Seit Beginn der Pandemie verfolge ich die Diskussionen in den sozialen Netzwerken rund um Corona. Und merke, wie gerade über den Sommer die Zahl derer, die die ganzen Maßnahmen für übertrieben halten, gestiegen ist. Gute Bekannte von mir, Freunde, die alles für eine große Verschwörung halten.
Freunde, die Maßnahmen wegen der “paar Coronatoten” – eh größtenteils nur alte, schwerkranke Menschen – angesichts der wirtschaftlichen Konsequenzen und den Auswirkungen auf ihre eigene Freiheit massiv kritisieren.
Mir fehlt dafür das Verständnis: Es geht um Menschenleben – und jedes Leben sollte es wert sein, dass man darum kämpft und versucht es zu retten.
Und die Gefahr bei Corona liegt nicht darin, dass alte, schwerkranke Menschen, die sowieso am Ende ihres Lebens stehen, versterben. Die Gefahr liegt darin, dass bei einer unkontrollierten Ausbreitung viele Menschen sterben werden, die noch ein langes Leben vor sich gehabt hätten. Menschen, die eigentlich hätten gerettet werden können, aber für die kein Platz mehr auf den Intensivstationen waren.
Und damit meine ich nicht nur Corona-Patienten, sondern auch Unfallopfer, Menschen mit einem Herzinfarkt und Schlaganfallpatienten.
Die aktuellen Zahlen zeigen, wie schnell eine solche Situation eintreten kann. Und diese Gefahr abzuwenden, gelingt uns nur, wenn wir als Gesellschaft zusammenhalten. Wenn wir alle gemeinsam unsere sozialen Kontakte reduzieren, Abstand halten, größere Menschenansammlungen meiden und in beengten Situationen eine Maske aufziehen. Ja, das ist anstrengend. Aber es ist durchzuhalten. Wir haben es bereits über ein halbes Jahr bewiesen, dass wir das können. Und wir machen jetzt weiter.
Für Eure Eltern, Großeltern und 300.000 andere Risikopatienten im Saarland
Ich mache es auch weiter: Nicht nur für mich, sondern auch für meine Eltern, deren Freunde und all die anderen 310.000 Saarländer, die älter als 60 Jahre sind und zur Risikogruppe für einen schweren Krankheitsverlauf zählen. Ich will und kann mir nicht vorstellen, dass im Saarland demnächst ein Mensch schwer erkrankt – und dann kein Platz mehr für ihm im Krankenhaus ist. Es liegt an uns, und ich glaube daran, dass wir das Ruder noch einmal herumreißen können.
Autor: Thomas Braun